Böse Zungen - im aktuellen Fall ein Musikkritiker der deutschen Zeitung „Welt“ - behaupten ja, dass die Rolling Stones seit mindestens zehn Jahren als Rolling-Stones-Coverband durch die Stadien ziehen. Auf „Blue & Lonesome“ covern Mick Jagger, Keith Richards, Ronnie Wood und Charlie Watts nicht sich selbst, dafür die Idole ihrer Jugend. Die zwölf Nummern wurden in nur drei Tagen im Londoner Studio von Mark Knopfler (Dire Straits) eingespielt - nach einer „lebenslangen Recherche“, wie es Gitarrist Wood gegenüber dem „Rolling Stone“ ausdrückte.
Bis die Finger bluten
Neidlos anerkennen muss man, dass die Stones eine passable Bluesband abgeben. Besonderen Eindruck hinterlässt Jaggers Spiel der Richter-Harmonika; der ursprünglich Mundharmonikaspieler und legendäre Gitarrist der Stones, Brian Jones, starb bereits 1969. Der Sound ist laut, rau und leicht verzerrt, die Band spielt energetisch und schenkt sich nichts. Bei einer Nummer hätten seine Finger geblutet, so hart habe er die Saiten geschlagen, so Richards.
Die Stücke stammen von längst vergessenen Größen wie Little Jimmy Reed, Otis Rush und Howlin’ Wolf, die Stones scheinen sie so ursprünglich wie möglich interpretieren zu wollen. Und so wirkt das Album trotz seiner musikalischen Qualität ein wenig sehr aus der Zeit gefallen.
Die Wurzeln nicht verleugnen
Manche Kritiker schrieben davon, dass die Stones mit „Blue & Lonesome“ zu ihren Wurzeln zurückkehren. Das trifft aber genaugenommen nur teilweise zu. Natürlich: Der Einfluss des Blues auf die Band ist in vielen Liedern unüberhörbar. Coverversionen von Bluesklassikern fanden auch immer wieder Eingang in Sessions der Gruppe. Eine urige Bluesband waren die Stones aber trotzdem nie, zu groß war ihre Hingabe zu Rock’n’Roll und Soul.
Für Jagger ist Blues auch irgendwie Pop - wenn man den Begriff Populärmusik etwas weiter fasst: „Als diese Aufnahmen herausgekommen sind“, sagte Jagger dem „Rolling Stone“ in Hinblick auf die Alben von Jimmy Reed und Co., „waren sie auf gewisse Weise Popmusik fürs Publikum.“ Wenn man für einen Moment die Genregrenzen aufhebe, wäre alles Popmusik.
Im Laufe ihrer Karriere haben sich die Stones zudem verdient gemacht um die Pflege und Erinnerung an die alten Bluesgrößen. Bereits 1965 brachten sie gegenüber den Sendeverantwortlichen einer US-Musikfernsehshow durch, Howlin’ Wolf auf die Bühne zu holen.
Differenzen unter der Gürtellinie
„Blue & Lonesome“ ist das erste Rolling-Stones-Album überhaupt, das ohne einen einzigen Beitrag von Jagger oder Richards auskommt. Der Entstehungsprozess zeigt sehr schön, wie schwer es die Dauerbrenner des Popbusiness haben, gemeinsam kreativ zu sein und das Ergebnis dann zu einem Produkt zu machen.
Nach „A Bigger Bang“ habe man das Gefühl gehabt, aus der künstlerischen Beziehung zwischen Jagger und Richards sei die Luft raus, befand der „Guardian“. Und tatsächlich ist das jetzige Bluesalbum ein Produkt von Sessions, bei denen die Stones eigentlich ein Album mit eigenen Kompositionen aufnehmen wollten. Laut Jagger hätte das Coveralbum gemeinsam mit dem neuen Werk erscheinen sollen.
Zu den kreativen Differenzen zwischen Jagger und Richards kamen auch persönliche. In seiner vor ein paar Jahren veröffentlichten Autobiografie äußerte sich Richards mehrmals abfällig über Jagger - und ging im wahrsten Sinne des Wortes unter die Gürtellinie, als er zum Besten gab, Jagger habe ein kleines Geschlechtsteil.
Darauf kann man sich einigen
Einigen konnte man sich in der Band dann offensichtlich nur auf die Bluesnummern. „Das Album hat sich selbst gemacht“, sagte Gitarrist Woods. Vielleicht ist es nur gutes Marketing, aber tatsächlich scheint die Eintracht zwischen den Streithansln Jagger und Richards verblüffend. „Das ist die beste Platte, die Mick Jagger je gemacht hat“, sagte Richards.